Grenzraum Hören

Von Timo Kreuser &
Sophie Emilie Beha

Hören ist gerichtet. Ohne Präfixe oder Präpositionen ist es abstrakt und beschreibt einzig die sinnliche Aktivität. Mit ihnen (Zu-, Hin-, Weg-, Nach-, Ab-, Ein-, An-, Über-) steht das Streben des Hörenden in Beziehung zur Tätigkeit und beeinflusst die Sinneserfahrung, verwandelt den passiven Sinnesakt in Aktion (Ver-) oder bestimmt die Zugehörigkeit (Ge-). Im Auf-hören wird das Hören zum Synonym aktiver geistiger Teilhabe. Hören ist kein rein empfangender Vorgang, sondern ein gestaltender und komponierender (zusammenfügender) Akt - ob in seiner imaginativen (Hinein-, Heraus-) oder in seiner antizipativen (Vorraus-) Ausprägung. Ob aktiv, passiv oder abstrakt - es definiert  Hörbares von Unhörbarem.

Ist das von uns Gehörte das Hörbare an sich oder nur der hörbare Anteil des zu Hörenden? (Das Negativ des zu Hörenden wäre das Unhörbare). Kann somit eine Sicherheit über das Gehörte bestehen? Wir bilden unsere Gehöre aus, aber lernen wir dadurch auch das Zuhören? Bedeutet zu Hören nicht eigentlich sowohl das Hörbare wahrzunehmen, als auch sich der Dimension des Unhörbaren bewusst zu sein?

Hören ist zentralperspektivisch, mit dem Gehör fangen wir die akustischen Daten an unserer Hörposition auf. Jede andere Position würde den Hörwinkel und somit auch das Gehörte verändern. Alle weiteren Personen und Objekte, aber auch der Raum selbst, determinieren das zu Hörende akustisch, ihre reine Anwesenheit und Position verändern es. Ist das zu Hörende zentralperspektivisch intendiert, gibt es nur eine perfekte Position, alle Abweichungen davon gehen einher mit Qualitätsverlust.

Wenn das zu Hörende jedoch per se multidirektional gedacht ist, stellt sich die Frage einer perfekten Position nicht mehr. Vielmehr entsteht hier ein Möglichkeitsraum der Hörperspektiven, der niemals  den Anspruch an eine perfekte Position und damit an eine perfekte Hör-Information zu erfüllen sucht. Das eigene Hören und dessen Konditionen werden zum kreativen Akt der Perzeption und zum zentralen, performativen Prinzip.

Von einer Politik des Hörens

All public expression of musical response - even silence - is inevitably social. Public expression, although freely chosen, is drawn from a finite number of behaviors and styles of discourse shaped by the culture.

– James H. Johnson, Listening in Paris

Warum hören wir, was wir hören? Das Phänomen der Entfremdung zum Gehörten ist ein konstitutiver Bestandteil von Subjektivität und Ausdruck von sozialer Dissonanz - der Diskrepanz zwischen unserem individuellen Narzissmus und unserer sozialen Kapazität. Somit macht es auch durchaus einen Unterschied, wie, wo und mit wem wir Hören.

Listening is not a natural process inherent to our perception of the world but rather constructed by the conditions of the spaces and times that engulf us. A ‘politics of listening’ is an intervention into and a re-organization of forms that listening takes rather than a call for a platform for voices to be heard. Listening is a political act, a pedagogical process, and an activity that can lead to the development of an organized protocol for engagement.

– Lawrence Abu Hamdan, Politics of Listening in 4 Acts

Es gibt keine empirische Qualität des Hörens, sondern eine persönlich individuelle. Erst die Verwendung von Stimmerkennung und zur Urheberrechtswahrung eingesetzten Analyse- Algorithmen verlegen das Hören auf eine quasi empirische Ebene. Das (Ver-)Hören wird somit zum “bug”, zum technischen Fehler. Die Archivierung von Hörbarem und die Analyse des zu Hörenden machen das Hören politisch.

Eavesdropping, censorship, recording, and surveillance are weapons of power. The technology of listening in on, ordering, transmitting, and recording noise is at the heart of this apparatus. The symbolism of the Frozen Words, of the Tables of the Law, of recorded noise and eavesdropping –these are the dreams of political scientists and the fantasies of men in power: to listen, to memorize –this is the ability to interpret and control history, to manipulate the culture of a people, to channel its violence and hopes. Who among us is free of the feeling that this process, taken to an extreme, is turning the modern State into a gigantic, monopolizing noise emitter, and at the same time, a generalized eavesdropping device. Eavesdropping on what? In order to silence whom?

– Jacques Attali, Noise

Von einer Dialektik des Hörens

An der Grenze zwischen Hörbarem und Unhörbarem liegt das Rauschen unseres eigenen Kreislaufs, das unser lauschendes Atemhalten übertönt.

Das Geräusch (“noise”) stört etablierte Codes, Ordnungen, Diskurse, Gewohnheiten, Erwartungen, Ästhetik und Moral. Es überschreibt Logiken, denn es ist entweder zu viel, zu dicht, zu komplex, zu schwer, zu laut oder zu chaotisch. Auf jeden Fall immer zu ___. Es hat die Macht, Werturteile wie richtig oder falsch, schön oder hässlich aufzuheben. Es bringt die Trennung zwischen Aktivität und Passivität in eine Krise. Du kannst nicht nicht hören, wenn deine Ohren mit Geräuschen zugeballert werden. Geräusche führen uns unsere eigenen Horizonte vor Augen und zwingen uns so, unsere eigene Position in Frage zu stellen.

[N]oise is, in some regards, the most abstract yet the most concrete of cultural expressions [...] It is abstract because [...] it constantly forces [...] complexity to reach another level which has not yet been explored. Yet it is concrete because its specicity has to do with the unacknowledged residue [...] that surfaces in a precise sender-receiver situation.

– Mattin, Social Dissonance

Ähnliches gilt für die Stille. Die Stille ist die Verweigerung des Hörbaren oder die Negation des Hörens. In der Stille gibt es nichts mehr zu hören, außer die Stille selbst, diese Leerstelle vor / nach / zwischen / unter / hinter dem Hörbaren. Ist Stille nicht manchmal unerträglich laut? So, dass wir sie schnell füllen möchten? Dialektisch gehört, ist die Stille simultan eine Geräuschwand, (im Noise (Genre) Harsh Noise Wall genannt), und die Geräuschwand eine Stille. Was hören wir nicht, wenn wir hören?

The true object voice is mute, “stuck in the throat”, and what effectively reverberates is the void: resonance always takes place in a vacuum – the tone as such is originally a lament for the lost object [...] In this precise sense, as Lacan points out, voice and silence relate as figure and ground: silence is not (as one would be prone to think) the ground against which the figure of the voice emerges; quite the contrary, the reverberating sound itself provides the ground that renders visible the figures of silence [...]. In other words, their relationship is mediated by an impossibility: ultimately, we hear things because we cannot see. everything.

– Slavoj Žižek, 1996

Von den Dispositiven des Hörens

Das Dispositiv des Hörens ist das Netz zwischen Hörbarem und Unhörbarem: die Diskurse, das nicht-diskursive Soziale (=Institutionen), Gebäude, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische oder moralische Standpunkte. Kurz: Hörbares ebenso wie Unhörbares. In Bezug auf die Dialektik erlaubt das Dispositiv-Konzept die Umgehung der Opposition von Subjekt und Objekt – denn nun kann ein Gegenstand immer im Kontext seiner Situation analysiert werden.

Was sind nun aber die Umstände des Hörens? Wo, wie, warum und was hören wir? Welche Art von Sinneserfahrung entsteht? Inwiefern sind die Konditionen des Hörens, die Bestandteile des Dispositivs, hörbar oder unhörbar?

Jede*r hört individuell und nimmt eine individuelle Perspektive auf das (Un-)hörbare ein. Ein Er-Hören der Gesamtheit des (Un-)Hörbaren ist der*dem Einzelnen unmöglich, und somit unhörbar. Kollektives Hören ist also immer nur eine Annäherung an diese Gesamtheit, die Kombination des gemeinsam Gehörten bzw. die Summe der individuellen Hörerlebnisse. Die perfekte Perspektive ist weder existent noch ist sie hierfür relevant.

hörbares Hörbares | hörbares Unhörbares
unhörbares Hörbares | unhörbares Unhörbares

Reports that say that something hasn’t happened are always interesting to me, because as we know, there are KNOWN KNOWNS; there are things we know we know. We also know there are KNOWN UNKNOWNS that is to say we know there are some things we do not know. There are also UNKNOWN KNOWNS; that is to say, things that you possibly may know that you don’t know you know. But there are also UNKNOWN UNKNOWNS —the ones we don’t know we don’t know. And if one looks throughout the history of our country and other free countries, it is the latter category that tends to be the difficult ones.

Donald Rumsfeld, 2002

Vom Grenzraum des Hörens

Ist der Grenzraum eine Utopie? Weil er radikale Vielfalt beherbergt? Sind im Grenzraum die Grenzen aufgehoben? Welchen inneren Gesetzen folgt der Grenzraum?

Der Grenzraum zwischen Hörbarem und Unhörbaren definiert sich über seine Dimensionen und sein Potential zur Expansion. Weder ist er ein Raum mit klaren Grenzen, noch beherbergt er unendliche Weiten, vielmehr ist er eine Alternative zur harten Grenze, die in Hier oder Dort unterscheidet. Er nährt sich aus seinen Extremen, ist darin aber kein Hybrid aus Beiden, sondern etwas Drittes, Viertes und Fünftes, ein Vielfaches seiner Ursprünge. Unterscheidbarkeit ist sein Ende, seine Vieldeutigkeit ist sein Potential, die Überlappung ist sein Habitat. Das diffuse Dasein prägt den Grenzraum - die Gleichzeitigkeit der Gegensätze: drinnen / draußen. offen / geschlossen. gegen / zusammen. gemeinsam / getrennt.

Alles spielt sich also unter bzw. zwischen uns […] ab: dieses ›Zwischen‹ hat, wie sein Name es andeutet, weder eine eigene Konsistenz noch Kontinuität. Es führt nicht von einem zum anderen, es bildet keinen Stoff, keinen Zement, keine Brücke. […] Das ›Zwischen‹ ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären als solchem eröffnet wird, und eine Verräumlichung seines Sinns. Was nicht die Distanz des ›Zwischen‹ hält, ist nichts als in sich verschmolzene Immanenz und sinnentleert.

Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, S. 25

Es gibt im Grenzraum zwar die Annahme von klaren Grenzen, allerdings sind sie nicht klar verortbar, sondern schweben eher in den Sphären der Spekulation. Unsichtbar und semipermeabel, mögliche Facetten. Von diesen vermeintlichen Demarkationslinien formuliert der Raum Unklarheiten und Erweiterungen. Der Grenzraum ist ein Paradox, er ist gleichzeitig expansiv und kontraktiv, wie ein Ballon im Moment zwischen Explosion und Deflation. Konstante Spannung – ein Zustand des Dazwischens und dennoch konkret.

Das [...] Dazwischen-Sein – bezeichnet ein besonderes Verhältnis zu Grenzen und Grenzgebieten: eine besondere Aufmerksamkeit für den Zwischenraum, den Spalt oder die Kluft, die sich zwischen Definitionen, Wissensfeldern und Disziplinen auftun, und eine Aufmerksamkeit für Differenzen.

—David Wallraf, Grenzen des Hörens

Joshua Arky, Sophie Emilie Beha, Christina Biliouri, Christoph Binner, Thomas Boessl, Veronika Böhle, Jem Bosatta, Helena Boysen, Samantha Britt, Christoph Brunner, Peyee Chen, Elisabeth Corcoran, Amber Fasquelle, Carlo Grippa, Lawrence Halksworth, Wolfgang Heiniger, Nicole Hyde-Kull, Marisol Jiménez, Yannis Karalis, Hassan Khan, Oskar Koziołek, Timo Kreuser, Wojciech Kuczyński, Goh Lee Kwang, William Kwiatowski, Jason Lee, Ikbal Lubys, Kanae Mizobuchi, Hannah Moss, Andrew Munn, Martin Netter, Lisa Newill-Smith, Pauline Oliveros, Brieanne Pasko, Caitlin Redding, Alexandra Rodrick, Micah Schroeder, Devony Smith, Michael Taylor, Ines Theilsis, Jakob Ullmann, Peter Weinsheimer, Benjamin Werth, CarrieAnne Winter, Eva Zwedberg with Sputnica and Shadowfax

Choose one word. Dwell silently on this word. When you are ready, explore every sound in this word extremely slowly, repeatedly.

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